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Ein Leben mit Brille

Prof. Dr. Ilse Storb, Essen
Ein Leben mit Brille

Heute gibt es die schönsten Fassungen. Für jedes Gesicht. Für jede Gelegenheit. In jeder Preislage. Versetzen Sie sich zurück ins Jahr 1943: Mitten im Zweiten Weltkrieg. Schöne Fassungen – Fehlanzeige. Sie sind kurzsichtig? Wenn Sie sonst keine Sorgen haben. Ansonsten: Pech gehabt. Es gab buchstäblich nichts.

1943 war Ilse Storb 13 Jahre alt. Die Einserschülerin sackte notentechnisch ab, ein klassisches Anzeichen für Kurzsichtigkeit. Die stellte sich dann auch mit –4 dpt. heraus. Das Kind brauchte eine Brille. Es fand sich – großes Glück – eine Nickelbrille. Mehr schlecht als recht. Ilse wurde dadurch nicht schöner. Stellen Sie es sich einfach vor, denn Bilder aus dieser Zeit gibt es nicht mehr. Die hat der Krieg vernichtet.

„Wir wohnten damals in einem Bauernhaus von 1780. Eine Luftmine drauf, Ende. Der Onkel stand da und sagte resigniert „sic transit gloria mundi“ – so vergeht der Ruhm der Welt. Ich schrie nur immer nach meinem Klavier.“ Aber weil das Bauernhaus ein Fachwerkhaus war, konnten Balken und Lehm so geschickt fallen, dass das Klavier und einige alte Schränke erhalten blieben. Verletzt – aber erhalten. „Auf dem Splitterklavier habe ich später noch mein Staatsexamen gemacht.“
Der Krieg fand ein Ende, das Leben sollte weiter gehen. Ilse kam in Essen in die Tanzstunde. Nun hatte das Mädchen nicht nur eine ‚schreckliche Brille’ auf der Nase – wir sprechen vom Zeitalter des ‚mein letzter Wille, ne Frau mit Brille’. Ilse hatte auch Pickel. Igitt. Das alles, als Punkt drei im Katastrophenszenario, im vor-nehmen Stadtteil Bredeney. Der Vater unterrichtete als Lehrer zwar die Kinder der Haute volee, war aber deswegen noch lange nicht einer der ihren. Seine Tochter schon gar nicht. „Nun stellen Sie sich das mal vor. Brille, Pickel, Arbeiterkind. Ich bin in der Schule nie sitzen geblieben, in der Tanzstunde schon. Das steckte tief drin.“
Die Mutter tröstete, ‚sie brauche nicht zu heiraten, sie solle Musik studieren. Die Musik bliebe, die Kerle würden weglaufen’. Ilse Storb stürzte sich auf ihr Studium. Sie studierte Schulmusik, Musikwissenschaften und Romanistik in Köln, Paris und Boston. Mit Brille, denn mit Kontaktlinsen kam sie nicht klar. „Es gab ja damals nur harte und gleich beim ersten Spaziergang im Wald habe ich eine verloren. Und dann diese Fummelei, ich bin einfach zu ungeduldig.“ Auch mit einer Gleitsichtbrille kam sie später nicht zurecht. Die Ungeduld. Ein Erlebnis gab der ungeliebten Gleitsichtbrille den Rest: Ilse Storb leitet eine Big Band. Sie sitzt am Klavier, nimmt die Brille ab und sagt zur Band, sie könne jetzt zwar die Noten sehen, aber leider nicht die Band. Worauf die Band antwortet, das mache nichts, Hauptsache sie könne sie hören. Abgang Gleitsichtbrille.
Nach 30 Jahren Hochschulpolitik, Eröffnung eines Jazzlabors, vier Staatsexamen, Promotion, Habilitation, fünf Büchern, 100 Veröffentlichungen, fünf Kongressen, einem Festival nahm sie eine Professur ins Auge. Diese Professur war letztendlich nur mit einer Anwältin und enormem Nervenkrieg zu erlangen. Ilse Storb ist streitbar. Sie weiß was sie will. Sie bekam ihre Professur und wurde europaweit die einzige Jazzprofessorin. Selbst heute – lange nach ihrer Emeritierung – ist sie immer noch die einzige. Über dieses Thema kann sie sich ereifern, da gerät die temperamentvolle Musikerin außer sich.
1971 gründete Ilse Storb an der Uni Duisburg ein Jazzlabor, um die Musikrichtung Jazz als Schulmusik zu etablieren. Sie schrieb ‚Jazz meets the world’, Bücher über Louis Armstrong und Dave Brubeck. Mit den Jahren ließ sie sich mehr und mehr von Klängen aus anderen Teilen der Welt inspirieren. Für ihre ‚Völkerverständigung durch Musik’ erhielt sie 1998 das Bundesverdienstkreuz. Sie tritt in ihrem Projekt ‚Dialoge zur kulturellen Globalisierung’ mit Musikern aus China, Tunesien, Ghana, Kurdistan und Sibirien auf. Mit einem Ghanaer veranstaltet sie Workshops an Schulen und hält Vorträge. Zu ihrem Repertoire gehören eine Louis Armstrong-Show und Chanson-Abende.
Auch für ihre Auftritte braucht sie eine Brille. Und sie wäre nicht Ilse Storb, wenn sie sich da nicht etwas hätte einfallen lassen. „In Florida habe ich eine Palmenbrille entdeckt. Sie wurde mein Markenzeichen“. Aber so eine Brille hält ja nicht ewig. Als sie nach starker Abnutzung den Weg aller Brillen gehen sollte, war guter Rat teuer. Allerdings nicht sehr teuer, denn es fand sich ein Augenoptiker, der Ilse Storb eine neue, fast identische, Palmenbrille baute. Auf den Augenoptiker Kleine-Limberg in Rüttenscheid hält sie seitdem große Stücke.
Vielleicht haben Sie die Gelegenheit, Ilse Storb einmal live zu erleben – mit Markenzeichen Brille. Sie hat eine website (www.ilse-storb.de) und sagt Ihnen gern, wann sie wo zu sehen und zu hören ist.
Ob ihr Leben ohne Brille anders verlaufen wäre? Was meinen Sie?
Ulla Schmidt
Fotos: Frank Herrmann
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