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Akkommodation und Vergenz

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Akkommodation und Vergenz

Im Rahmen des 61. Fielmann Akademie Kolloquiums diskutierte Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. (FH) Hans-Jürgen Grein, Leiter Wissenschaft der Fielmann Akademie Schloss Plön, mit namhaften Referenten über bekannte Zusammenhänge und neue Erkenntnisse zum Zusammenspiel von Akkommodation und Vergenz sowie über Lösungsansätze bei vorhandenen Störungen. Rund 200 Zuhörer haben am 13. März an dem Webseminar teilgenommen.

Die meisten Menschen sind es gewohnt, mit beiden Augen in allen Entfernungen deutlich zu sehen. Für unser Gehirn bedeutet diese Fähigkeit einen enormen Regelaufwand. Um binokular einfach zu sehen, müssen Akkommodation und Vergenzstellung der Augen sowohl im statischen als auch im dynamischen Zustand optimal aufeinander abgestimmt sein. Der Komplexität und Fragilität dieses Systems werden wir uns häufig erst dann bewusst, wenn Störungen auftreten, was zu Doppeltsehen oder Anstrengungsbeschwerden führen kann.

Dr. Philipp Hessler, M.Sc. Optometrie/Vision Science, Dozent an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und Optometrist bei Optik Hessler in Klingenberg und Erlenbach, eröffnete die Vorträge mit einer umfassenden Übersicht über das Zusammenspiel von Akkommodation und Vergenz. Die Akkommodation sei die Fähigkeit der Augen zur Brechwertänderung. Die Akkommodation sei zudem kein isolierter unilateraler Prozess, sondern erfolge stets beidseits, auch wenn nur ein Auge Akkommodationsreize erhalte, zum Beispiel, wenn ein Auge abgedeckt werde.

Elemente der Akkommodation

Der Regelvorgang der Akkommodation sei durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Die Ruhelage der Akkommodation werde auch als tonische Akkommodation bezeichnet. Sie habe für die optometrische Praxis keine Relevanz und finde nur statt, wenn sympathisches und parasympathisches Nervensystem einen ausgeglichenen Tonus haben. Dieser Zustand komme vielleicht in tief dunkelster Nacht vor. Den Einfluss der proximalen Akkommodation hingegen, die durch das Gefühl der Nähe entstehe, sollten Augenoptiker in ihrem Alltag kennen und berücksichtigen. Diese bereite beispielsweise bei einer Autorefraktometermessung oder bei der Refraktionsbestimmung in einem kleinen Prüfraum gelegentlich Probleme und führe dazu, dass die erzielten Messergebnisse nicht dem fernakkommodierten Zustand entsprechen. Die Hauptkomponente der akkommodativen Adaptation stelle die Reflexakkommodation. Sie erfolge basierend auf Unschärfewahrnehmung und führe dazu, das angeblickte Objekt zu fokussieren. Als letztes Element der Akkommodation nannte Hessler die Vergenzakkommodation, die Anpassung der Augenstellung, die sich aus der Kopplung von Akkommodation und Vergenz ergebe. Die Regulierung der Vergenz erfolge auf ähnliche Weise. Anstelle der Bildunschärfe als Anreiz zur Vergenz, sei für die fusionale Vergenz die Vermeidung von Doppelbildern die treibende Kraft des adaptiven Prozesses.

Akkommodation – wann prüfen

Die Akkommodation habe im augenoptischen Alltag eine sehr hohe Relevanz und gleichzeitig sei sie eine häufig vernachlässigte Komponente. Häufig sei alleine die Presbyopie als limitierender Einflussfaktor auf die Akkommodation in unseren Köpfen verankert. Akkommodationsstörungen können jedoch bereits bei jüngeren Kunden auftreten. Da es keine standardisierte Methode für die Erhebung von nicht-presbyopen akkommodativen Störungen gebe, seien die Zahlen zur Prävalenz in den Studien sehr schwankend. Aus seiner eigenen Erfahrung seien etwa zehn bis 15 Prozent der jüngeren Kunden betroffen. Hinweise für die Notwendigkeit einer Akkommodationsprüfung ergeben sich meist aus der Anamnese. So seien Kopfschmerzen, Ermüdung beim Lesen oder am Monitor, Schwierigkeiten beim Distanzwechsel, Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, Druckgefühl in den Augen oder häufiges Augenreiben wichtige Anhaltspunkte. Zudem sollten auch bei Kindern Medikamenteneinnahmen gezielt abgefragt. Das zur Therapie von AD(H)S eingesetzte Methylphenidat (Ritalin®) führe nicht selten zu Akkommodationsstörungen. Manche Kinder seien durch das Medikament in ihrer Akkommodationsfähigkeit eingeschränkt, andere wiederum haben Probleme diese loszulassen. Eine Versorgung mit Prismen sei in diesen Fällen oftmals nicht zielführend. Mit Nahzusatz oder visuellem Training seien viele Kunden besser beraten.

Naharbeit und Myopie

Dr. rer. nat. Sandra Wagner (FAAO), M.Sc. Augenoptik und Psychophysik ist Postdoc Researcher und stellvertretende Gruppenleiterin der Applied Vision Research Group des Forschungsinstituts für Augenheilkunde der Universität Tübingen. Ihre aktuellen Forschungen widmen sich dem Zusammenhang zwischen Akkommodation und Myopie. Aktuell nehme die Prävalenz der Myopie in allen Industrienationen erheblich zu. Die Myopie steige an, wenn die Naharbeit einsetze, also etwa mit Schulbeginn. Zudem seien Menschen kurzsichtiger, je höher ihr Bildungsstand oder Ausbildungsgrad sei. Dies lege die Vermutung nahe, dass Naharbeit und Myopie zusammenhängen. Diese Idee sei nicht neu. Bereits 1812 habe es erste Publikationen gegeben, die das Einhalten eines bestimmten Nahabstandes propagierten. Bereits seit Langem wisse man, dass der Prozess der Brechkraftänderung der Augenlinse zur Anpassung an unterschiedliche Betrachtungsentfernungen durch den Ziliarkörper initiiert werden. Der genaue Prozess der Akkommodation sei bislang jedoch nicht vollständig verstanden. Dies werde allerdings erforderlich, um die Mechanismen der Myopieentwicklung zu verstehen und eine erfolgreiche und zielgerichtete Prävention anzubieten, erläuterte Wagner.

Ziliarmuskelmorphologie
und Biofeedback-Training

In eigenen Untersuchungen konnte Wagner zeigen, dass Naharbeit einen Einfluss auf die Morphologie des Ziliarmuskels und die Akkommodation habe. So falle die Dickenzunahme des Ziliarmuskels bei Myopen geringer aus gegenüber Emmetropen. Nach langanhaltendem Lesen zeige sich sowohl bei Myopen, als auch bei Emmetropen entgegen der Erwartung eine Verdünnung des Ziliarmuskels. Bei Myopen gingen die Veränderungen der Ziliarmuskeldicke mit einer anhaltenden Brechkraftänderung in der Ferne um ca. 0,25 Dioptrien Richtung Myopie einher. Emmetrope hingegen haben kaum eine Veränderung der Brechkraft vor und nach einer längeren Lesephase in kurzer Distanz. Darüber hinaus untersuchte Wagner die Möglichkeit, die Akkommodation mittels auditivem Biofeedback-Training zu verbessern. Beim Biofeedback-Training erhalte der Patient ein akustisches oder visuelles Feedback über Funktionen seines Körpers, die eigentlich unbewusst kontrolliert werden. Wagner setzte die Methode ein, um die Akkommodation zu erhöhen und so eine Verbesserung der Akkommodationsgenauigkeit zu erzielen. In einer Vergleichsstudie zwischen Emmetropen und Myopen konnte sie eine signifikante Beeinflussung des lag of accommodation unabhängig von Refraktion und Objektabstand durch das Training zeigen. Bei Myopen sei das Training erfolgreicher gewesen. Zur Korrektion haben die myopen Patienten Einstärken-Kontaktlinsen oder multifokale Kontaktlinsen getragen. Der Trainingseffekt habe ohne weiteres Training bei einigen Probanden über die Dauer einer Woche angehalten. „Akkommodation und Linse sind verformbar und somit auch trainierbar“, resümierte Wagner. Zudem wecken die Ergebnisse die Hoffnung, dass eine Kombination aus dem Tragen multifokaler Kontaktlinsen und Biofeedback-Training auch bei Kindern funktioniere und die Myopieprogression positiv beeinflussen könne.

Visualtraining bei Akkommodationsstörungen

„Im nächsten Vortrag wird es praktisch“, kündigte Grein den letzten Referenten des Abends an. Marco Schätzing, B.Sc., Optometrist und Visualtrainer im eigenen Betrieb in Leipzig nahm die Zuhörer mit in seine tägliche Praxis und präsentierte spannende Fälle. Aus funktionaloptometrischer Sicht lassen sich nicht alle visuellen Probleme mit einer Brille beheben. Gelegentlich müsse das Sehverhalten verändert und das Sehen neu gelernt werden. Die Grundlage der Trainings stelle das Modell nach Skeffington dar, der den Vorgang des Sehens und Verstehens in vier Teilbereiche gliedere. Dazu zähle die Augenmotorik, die die gleitenden Augenfolgebewegungen umfasse, die wichtig seien für das Erfassen von Schriftsprache. Die Akkommodation erlaube die Fokussierung von Objekten in unterschiedlichen Entfernungen. Die Vergenzstellung der Augen führe dazu, dass sich die Fixierlinien beider Augen im angeblickten Objekt treffen. Störungen in diesem Bereich führen zur Wahrnehmung von Doppelbildern. In der letzten Ebene, der Visualisation, erfolge die Informationsverarbeitung und visuelle Wahrnehmung. Werde einer der Bereiche unzureichend beherrscht, könne dies zu Problemen führen. Insbesondere Kinder können unscharfes Sehen oder Doppelbildwahrnehmungen häufig nicht benennen, wenn sie das Sehen noch nie anders erlebt haben. Häufige Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten oder Probleme beim Fangen von Bällen können Hinweise liefern, das Zusammenspiel aus Akkommodation und Vergenz genauer unter die Lupe zu nehmen.

Typische Störungen des Binokularsehens

Als häufigste Störung des Binokularsehens nannte Schätzing die Konvergenzinsuffizienz. Sie zeichne sich durch eine im Vergleich zur Ferne deutlich größere Exophorie in der Nähe aus. Sehprobleme manifestieren sich zumeist in der Nähe. Diese fallen nur auf, wenn im Rahmen einer binokularen Versorgung auch eine Messung in der Nähe stattfinde. Konvergenzinsuffizienzen lassen sich in der Regel mit wenigen Trainingseinheiten stabil trainieren. Als zweithäufigste Störung führte Schätzing die Akkommodationsinsuffizienz an, die vor allem durch eine zu geringe Akkommodationsamplitude charakterisiert sei. Betroffene empfinden vor allem Unschärfe in der Nähe. Eine optimale Korrektion bestehe in einer Kombination aus Nahzusatz und Visualtraining. Das Trainingsprogramm werde für jeden Kunden individuell erstellt und ergebe sich aus einer ausführlichen visuellen Analyse. Die erste Trainingseinheit umfasse etwa 60 Minuten und werden gemeinsam mit dem Kunden absolviert. Die erlernten Übungen solle der Kunde über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen zu Hause durchführen. Um die Kundenadhärenz zu erhalten, sollten die Übungsphasen zu Hause nicht mehr als 15 Minuten Zeit in Anspruch nehmen. Alle vier bis sechs Wochen erfolge eine Erfolgskontrolle und eine Anpassung des Trainings. Die Anzahl der Trainingseinheiten ergebe sich aus der Komplexität des Befundes. „Akkommodation und Vergenz sind ein Paar, die immer gemeinsam betrachtet werden müssen.“ Diese gelte für das Training und für die visuelle Analyse, fasste Schätzing zusammen.

Das 62. Kolloquium der Fielmann Akademie Schloss Plön findet am 12. Juni 2024 wieder als Web-Seminar statt.

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