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Hoffnung für Blinde wird realistischer

Retina Implantate an der Schwelle zur Markteinführung
Hoffnung für Blinde wird realistischer

Berliner Fachsymposium Künstliches Sehen wird zur Bestandsaufnahme der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zum Thema Netzhaut-Chip.

Bei einer Pressekonferenz im vergangenen Frühjahr hatten Mediziner der Universität Tübingen die Forschungsergebnisse eines Projektes vorgestellt, das Patienten, die infolge einer Erkrankung an Retinitis Pigmentosa oder altersbedingter Makuladegeneration erblindet sind, wieder Seherlebnisse ermöglicht. Angesichts des überwältigenden Inter-esses in Medien und Öffentlichkeit regte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das die grundlegenden Forschungsarbeiten nachhaltig gefördert hatte, einen noch intensiveren wissenschaftlichen Austausch an, um die Entwicklung zügig weiter voranzutreiben. Das hochkarätige Fachsymposium „Künstliches Sehen: Konvergenz der Mikro-, Informations- und Biotechnologien in der Biomedizintechnik“ fand in Berlin statt. Die Initiatoren haben ein Expertenprogramm auf die Beine gestellt, das keinen wichtigen Aspekt ausließ. Die Teilnehmer waren sich einig, dass gerade solche Veranstaltungen die Forschergemeinde voran bringen und wertvolle Anstöße für die künftige (Zusammen)Arbeit liefern.

Unterstützt vom BMBF und der Retina Implant AG als Sponsor gelang es den Veranstaltern, dem NMI Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut an der Universität Tübingen, dem Department für Augenheilkunde der Universität Tübingen und der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik (DGBMT), herausragende Fachleute aus allen Disziplinen zusammenzubringen, die sich als Forscher, Mediziner, Philosophen und Unternehmer sowie als Betroffene mit der Thematik auseinander setzen.
Nicht zuletzt dank interdisziplinärer Forschungsleistungen sind in den vergangenen Jahrzehnten elektronische Implantate zur Wiederherstellung von Sinneswahrnehmungen Realität geworden. Cochlea-Implantate zur Therapie von Gehörlosen werden bereits standardisiert eingesetzt; die in Zusammenarbeit der Forschergruppe um den Ärztlichen Direktor Prof. Dr. med. Eberhart Zrenner, Department für Augenheilkunde der Universität Tübingen, Prof. Dr. Hugo Hämmerle vom NMI und der Retina Implant AG entwickelten Netzhautimplantate stehen nun an der Schwelle zur Markteinführung. Es wäre voreilig, zu behaupten, die größte Herausforderung bei solchen Projekten, die Entwicklung effektiver Schnittstellen von Biologie und Technik, sei bewältigt – akzeptable Zwischenlösungen stehen aber zur Verfügung.
Nach der Begrüßung durch Dr. Ekkehard Warmuth, Referatsleiter Biotechnologie beim BMBF, und Prof. Dr. Hugo Hämmerle wurde schnell deutlich, warum bei der Entwicklung von artifiziellen Systemen als Ersatz für natürliche Sinnesorgane die Kooperation der wissenschaftlichen Disziplinen unverzichtbar ist. Prof. Dr. Leo Peichl vom MPI Frankfurt a.M. als Fachmann für Neuroanatomie und Prof. Dr. Markus Lappe vom Psychologischen Institut der Universität Münster erklärten aus der Sicht der Biowissenschaften die Grundlagen des Sehens, insbesondere der Informationsverarbeitung in der Netzhaut; Prof. Dr. Ad Aertsen vom Institut für Biologie der Universität Freiburg und Prof. Dr. Tobias Delbrück vom Institute for Neuroinformatics der ETH Zürich zeigten aus der IT-Perspektive Strategien der Daten- und Informationsverarbeitung in neuronalen Netzen auf. Mit der Frage „Wie kommuniziert die Elektronik mit dem Nervengewebe?“ leitete Prof. Hämmerle die Diskussion auf den Bereich der Mikro-/Nanotechnologie-Elektronik über. Fundierte Antworten lieferten Prof. Dr. Peter Fromherz, Neurophysiker vom MPI Martinsried („Neuroelektronik: Halbleiterchips mit Neuronen und Hirngewebe“), Dr. Alfred Stett vom NMI („Multilokale elektrische Netzhautstimulation mit subretinalen Implantaten“), Prof. Dr.-Ing. Albrecht Rothermel, Elektrotechniker und Mikroelektroniker an der Universität Ulm („Retina Implant Stimulations-Chip“) und Prof. Dr.-Ing. Thomas Stieglitz, Inhaber des Lehrstuhls für Biomedizinische Mikrotechnik am Freiburger Institut für Mikrosystemtechnik („Materialien und Techniken für aktive Implantatsysteme“).
Zur Klärung der Frage, welche Ersatzfunktionen für Sinnesorgane prothetische Lösungen nach heutigen Erkenntnissen bieten können, fasste Prof. Zrenner den Stand der klinischen Pilotstudie Retina Implantat zusammen und erklärte, wie nach der zwölf Jahre dauernden Entwicklung des Retina Chips die ersten Operationen von erblindeten Patienten mit der Ethikkommission und Patientenorganisationen diskutiert worden waren. Dr. Florian Gekeler von der Tübinger Universitäts-Augenklinik erklärte die chirurgische Methode, mit der bisher sieben Patienten mit einem Sehchip versorgt wurden. Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Erwin Hochmair vom Institut für Ionenphysik und Angewandte Physik der Universität Innsbruck berichtete von der sehr erfolgreichen Entwicklung von Cochlea-Implantaten für Gehörlose, die 1979 mit ersten Implantationen begonnen hatte; Prof. Dr. med. Marcos Tatagiba von der Tübinger Universitätsklinik für Neurochirurgie sprach über jahrzehntelange Erfolge mit Auditorischen Hirnstammprothesen für Tumorpatienten.
Aus der Sicht desjenigen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte umzusetzen, berichtete Dr. Walter-G. Wrobel, Geschäftsführer der Retina Implant AG und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik im VDE, über das mögliche Marktpotenzial von Retina-Chips. Derzeit, so Wrobel, arbeiten weltweit rund 20 Arbeitsgruppen an Netzhautimplantaten zur Versorgung von an Retinitis Pigmentosa oder altersbedingter Makuladegeneration erkrankten Patienten, wobei eine „Firmenbildung“ bei den wenigsten absehbar sei. Während einige Wettbewerber in den USA ihr Risikokapital ausgegeben hätten, ohne ein Produkt vorweisen zu können, würden die langfristigen Konzeptionen und interdisziplinären Kooperationen der Europäer zunehmend als vorbildliche Ansätze akzeptiert.
Ehe Prof. Zrenner mit einem optimistischen Ausblick die Veranstaltung beschloss, stellte eine Podiumsdiskussion die entscheidende Frage nach dem Spannungsfeld Patientennutzen und Ökonomie im Zusammenhang mit Innovationen im Gesundheitssystem am Beispiel von Neuroimplantaten. In der von Dr. Patrick Illinger vom Ressort „Wissen“ der Süddeutschen Zeitung moderierten Gesprächsrunde kamen nun auch Betroffene zu Wort. Christina Fasser und Helma Gussek von der internationalen bzw. der deutschen Pro Retina Stiftung waren sich einig, dass jede Initiative Unterstützung verdient, die Blinden berechtigte Hoffnung auf Wiederherstellung der Sehfähigkeit macht – auch wenn die Erfolge zunächst nur bescheiden sein sollten. Das große Engagement des BMBF bei diesem Thema wurde ebenso nachdrücklich gewürdigt wie die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Forschern. Der Netzhautchirurg und ärztliche Direktor der Universitäts-Augenklinik Tübingen Prof. Karl Ulrich Bartz-Schmidt betonte nachdrücklich, dass die Retina-Implantat-Entwicklung weitergehen müsse, auch wenn die Spielräume durch die Fallpauschalen kleiner geworden sind. Dr. med. Heinz Nagel vom Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen erklärte die Grundsätze des Innovationsmanagements seiner Organisation. Während Prof. Dr. Armin Grunwald vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse im Forschungszentrum Karlsruhe moralphilosophische Aspekte beleuchtete – und zur eindeutigen Erkenntnis gelangte, das Retina Implant Projekt liege exakt „auf der Linie des ärztlichen Ethos des Heilens“ –, erläuterte Dr. Peter Lange für das BMBF, warum das Ministerium manchmal auch Projekte weiter fördere, die besonders lange Entwicklungs- und Erprobungsphasen durchzustehen hätten, bis sie sich auf den Markt wagen könnten.
Es gelang den Veranstaltern dieses Berliner Symposiums indes ein Programm auf die Beine zu stellen, das keinen wichtigen Aspekt zum Thema ausließ und zu sämtlichen Detailthemen beste Experten gewinnen konnte. Solche Veranstaltungen werden die Forschergemeinde mit Sicherheit weiter bringen und wertvolle Anstöße für die künftige (Zusammen)Arbeit liefern.
zk-haz
Über das NMI Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut an der Universität Tübingen
Das NMI betreibt wirtschaftsnahe Auftragsforschung und Entwicklung an der Schnittstelle von Bio- und Materialwissenschaften. Die Kernarbeitsgebiete sind Pharma und Biotechnologie, Biomedizintechnik, Oberflächen- und Grenzflächentechnologie. Institutsleiter ist Dr. Enzio Müller, Prof. Dr. Hugo Hämmerle ist stellvertretender Institutsleiter.
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