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Das Los der Blindheit mildern

Nikolauspflege Stuttgart
Das Los der Blindheit mildern

In Mittelalter und früher Neuzeit waren Blinde an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich die Auffassung durch, dass auch Blinde ein Anrecht auf Bildung und eine Chance im Arbeitsleben hatten. Eine der ältesten Blindeneinrichtungen Deutschlands ist die Stuttgarter Nikolauspflege.

Ihr 150-jähriges Bestehen feierte die die Stiftung Nikolauspflege im vergangenen Jahr im Neuen Schloss in Stuttgart – nicht ohne Grund, war doch das württembergische Königshaus eng mit ihrer Gründung verbunden. Die „Nikolauspflege. Stiftung für blinde und sehbehinderte Menschen“ ist heute hinsichtlich der Vielfalt ihrer Angebote die größte Blinden- und Sehbehinderteneinrichtung in Deutschland und betreut schwerpunktmäßig in Baden-Württemberg sowie in angrenzenden Bundesländern sehgeschädigte Menschen aller Altersgruppen. Die Zahl der betreuten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen liegt bei rund 1800. Kernbereiche sind neben der Schule und dem Berufsbildungswerk ein weitverzweigtes Netz an Beratungs- und Betreuungsstellen, beruflichen Integrationsdiensten und ein Weiterbildungszentrum.

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gehörten die Blinden neben den Taubstummen und den Geisteskranken ausnahmslos zu den Ärmsten der Gesellschaft. Für die Blinden bedeutete dies meist ein Leben in Abhängigkeit von den Angehörigen, den Kirchengemeinden, der dörflichen Armenkasse, oder sie mussten ihren Lebensunterhalt mit Betteln bestreiten.
Erst im frühen 19. Jahrhundert erfuhr das Schicksal des Blindseins im deutschsprachigen Raum gesteigerte Aufmerksamkeit. Vorbild für diese Entwicklung war Frankreich, wo bereits 1784 in Paris die erste Blindenschule gegründet worden war. Diesem Handeln lag die Idee zugrunde, Blinde durch praktische und geistige Förderung in die werteschaffende Gemeinschaft einzubinden und im Sinne der Aufklärung zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu machen. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass Blinde nicht bildungsfähig seien. Die erste Schule für jugendliche Blinde im deutschsprachigen Raum gründete Johann Wilhelm Klein 1804 in Wien. Später gründete er auch eine Versorgungs- und Beschäftigungsanstalt für erwachsene Blinde. Vom Erfolg der Wiener Blindenschule ermutigt, entstanden bald auch ähnliche Einrichtungen in Berlin (1806), München (1826), Hannover (1843), Düren (1845) und Nürnberg (1854).
Die Anfänge der Blindenfürsorge in Württemberg fallen in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts. Königin Katharina von Württemberg schuf 1817 mit dem Gremium der „Centralleitung des Wohlthätigkeitsvereins“ ein Instrument zur Linderung der im Land besonders unter den Kindern herrschenden Armut und Verwahrlosung. Dieser Verein sollte der Hilfe zur Selbsthilfe und der „Belebung des Wohlthätigkeitssinns im Lande“ dienen. Zumeist waren es Frauen aus dem Bürgertum, die Armenbesuche machten, Gelder sammelten, die Kranken pflegten, Speisen zubereiteten oder Handarbeiten fertigten. Damit war der Grundstein für eine private und halbstaatliche Armenfürsorge in Württemberg gelegt. In Preußen gab es im Jahr 1845 schon 1680 Wohltätigkeitsvereine. Dabei gewannen die privaten Wohltäter neben den öffentlichen mit den gewachsenen sozialen Aufgaben im 19. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung.
In der Folge entstanden in Württemberg vereinzelt sogenannte „Kinder-Beschäftigungsanstalten“ wie die Katharinenschule in Stuttgart, in der „gegen 400 Kinder beiderlei Geschlechts dem Müßiggang und der Verwilderung entzogen wurden“. Hinter diesen Versuchen der Separation der Kinder und Jugendlichen vom Elternhaus stand der Optimismus der Aufklärung, den jungen Menschen durch christliche Erziehung zu Fleiß, Pünktlichkeit und Gehorsam und schließlich zum Wohlstand führen zu können.
In diesem geistesgeschichtlichen Kontext tauchten auf einmal auch die Blinden als besondere Fürsorgegruppe auf. Schuf die Aufklärung die gedanklichen Voraussetzungen dafür, Armen ein moralisches Recht auf Erziehung und Bildung zuzubilligen, so sollten daran auch die Blinden partizipieren können. In Württemberg entstanden in den 1820er Jahren in wachsendem Maß sogenannte Rettungs- und Erziehungshäuser, die privat oder aus öffentlichen Mitteln gefördert wurden, in denen nach Aussage des Wohltätigkeitsvereins „einzelne taubstumme, blinde und andere unglückliche Kinder untergebracht waren“.
Ein Zeichen der Zeit war es, blinde, taubstumme und geisteskranke Kinder aus den staatlichen Waisen- oder Armenhäusern herauszunehmen und diese in besonderen Einrichtungen zu versorgen. Als Beispiel hier- für sei die Gründung der ersten Taubstummenanstalt in Württemberg in Schwäbisch Gmünd genannt. 1807 als private Anstalt gegründet, seit 1817 in staatlicher Obhut, erfuhr diese 1823 durch persönliche Verordnung König Wilhelms I. eine Erweiterung um eine Ausbildungsstätte für Blinde sowie 1832 um ein mit einer Beschäftigungsanstalt verbundenes Blindenasyl, um den besonderen Bedürfnissen der Blinden nachzukommen.
Wir befinden uns also in einer Zeit, in der sich ein spezielles Anstaltswesen für Blinde, Taubstumme und auch Geisteskranke als Hauptinstrument im Fürsorgewesen entwickelte. Der Glaube an die Heilbarkeit dieser Gebrechen, an die Möglichkeit der Erziehung und praktischen Ausbildung ihrer Klientel bestimmte die Diskussion unter Ärzten, Pädagogen und Verantwortlichen.
Auch der Stuttgarter Privatlehrer Gottlieb Friedrich Wagner folgte dem Aufruf humanitärer Nächstenliebe. Kurz nach seiner Anstellung als Unterlehrer an einer Mädchenschule übertrug ihm 1827 das evangelische Stadtdekanat Stuttgart den Unter-richt eines blinden Jungen. Von den schnellen Fortschritten des Blinden überrascht, begab er sich zur Weiterbildung im Blindenunterricht nach Schwäbisch Gmünd. Wieder in Stuttgart, vergrößerte sich die Zahl der bildungsbedürftigen Schüler, doch blieben die Umstände des Unterrichtens anfangs sehr bescheiden.
Ein Zeitzeuge – der von Jugend an blinde Johann Georg Knie – schrieb 1835 in sein Tagebuch, dass die Kinder anfangs „den gewöhnlichen Schulunterricht als Zuhörer benutzten und außerdem eine Arbeitsanstalt besuchten, um sich daselbst in der Handarbeit zu üben“. Wagner gab ihnen daher eine besondere Unterweisung, die ihrer Blindheit angemessen war. 1831 mietete er ein „Kosthaus“ für sich und seine „armen und verwahrlosten“ Kinder an. König Wilhelm I. wurde in dieser Zeit auf Wagner aufmerksam und bewilligte aus der „Königlichen Oberhofcasse“ die Anschaffung der nötigen Unterrichtsmittel. Daneben erhielt die wagnerische Privatanstalt Zuwendungen von der „Centralleitung des Wohlthätigkeitsvereins“, Spenden von der Stuttgarter Bürgerschaft und Kostgelder für die Kinder aus den Heimatgemeinden.
Wagner unterrichtete die Kinder täglich fünf Stunden lang im Lesen und Setzen fühlbarer Schrift. Singen und Musizieren standen ebenso auf dem Lehrplan wie vier Stunden Stricken und Spinnen sowie das Verfertigen von Schuhen. Seine Frau übernahm den Haushalt und die Versorgung der jungen Blinden.
Die Zahl der armen blinden Kinder, für die Pfarrer aus ganz Württemberg bei dem 1849 gegründeten Anstaltsrat um Aufnahme baten, nahm weiter zu. Glücklicherweise konnte sich Wagner vorher der weiteren Hilfe des württembergischen Königshauses versichern. Ein Brief aus dem Jahr 1847 markiert den Anfang einer Entwicklung, ohne die wohl kaum der Grundstein für den späteren Neubau einer Einrichtung für Blinde in Stuttgart gelegt worden wäre. Die Absenderin war die damalige Kronprinzessin und spätere Königin Olga: „Die wohlthätigen Absichten … haben Meine Aufmerksamkeit und Meine Teilnahme auf Ihre Anstalt gelenkt. Von dem Nutzen derselben durchdrungen und in Anerkennung Ihrer Verdienste um dieselbe, wünsche Ich die von Ihnen gegründete Blindenanstalt unter Meinen besonderen Schutz zu nehmen.“ Seit dieser Zeit hatte stets ein weibliches Mitglied des württembergischen Königshauses das Protektorat über die Nikolauspflege inne. Erst Königin Charlotte gab dieses Amt 1919 aufgrund der Revolutionswirren auf.
Dank der Unterstützung des Königshauses konnte die Anstalt mit neun Blinden in ein größeres Kosthaus umziehen, ehe es 1856 endlich zum Neubau der ersten eigenen Blindenanstalt in Württemberg kam. Eröffnet wurde die Einrichtung von Kronprinzessin Olga. Zu Ehren ihres kurz zuvor verstorbenen Vaters, Zar Nikolaus‘ I. von Russland, erhielt die Anstalt den Namen „Nikolaus-Pflege für blinde Kinder“.
Dass die Blindenanstalt in Stuttgart eingerichtet wurden, hatte mehrere Gründe. In der Landeshauptstadt konnte auf bereits etablierte Strukturen der privat-bürgerlichen (Spenden und Vermächtnisse) und öffentlichen Förderung (Stadtkasse und Königshaus) zurückgegriffen werden. Nicht zuletzt stand die Nikolauspflege unter dem unmittelbaren Schutz der Kronprinzessin, die jährlich zu Weihnachten die Blindenanstalt mit Geschenken aufsuchte. 1858 folgte die Zuführung der Blinden aus der Staatlichen Taubstummen- und Blindenanstalt Gmünd, womit nun die junge private Anstalt in den Genuss staatlicher Förderung für sogenannte Staatszöglinge kam.
Die Nikolauspflege trug jetzt Züge einer zeitgemäßen Bildungseinrichtung. Das Haus besaß einen großen Lehrsaal, der zugleich Arbeits-, Aufenthalts- und Speiseraum war, sowie zwei große Schlafsäle mit je 15 Betten, eine Küche und Zimmer für die Hausmagd und die Hausmutter. Außerdem verfügte sie über einen Garten, der Raum für körperliche Bewegung bot. Ziel der Einrichtung war es, die ihr anvertrauten Kinder „durch Erziehung und Unterricht für ihre bürgerliche Brauchbarkeit zu bilden und dadurch ihren bedauernswerthen Zustand zu erleichtern“.
Wie in anderen Blindeneinrichtungen erlernten die Stuttgarter Blinden das Handwerk des Stroh-, Matten- und Korbflechters oder des Bürstenmachers, um später auf eigenen Füßen stehen zu können. Handwerkliche und schulische Ausbildungen gingen dabei stets Hand in Hand. An Aufnahmegesuchen fehlte es nicht. Vielfach wurde darin ein dramatisches Bild von den Lebensumständen blinder Kinder gezeichnet. So heißt es in einem Aufnahmegesuch von 1857: „Friederike Lembacher … ist 4 Jahre und 3 Monate alt und das Kind einer schlimm präcidierten Mutter, welche bis zum Monat März diesen Jahres mit dem Kinde herumstrich, und das Bettelhandwerk mäßig betrieb, und ihr auch mit Leichtigkeit Gewinn brachte, weil sie durch ihr blindes Kind der Leute Mitleid anzusprechen wusste …“
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte Direktor Theodor Decker das Bild der Nikolauspflege mit einer Maxime, die bis heute richtungweisend ist. Die Blindenanstalten, so Decker in einem Rechenschaftsbericht von 1901, seien nicht allein Asyle oder Versorgungsanstalten, „sondern Häuser, welche bestrebt sind, ihre Zöglinge so nahe als möglich dahin zu bringen, dass sie in intellektueller und in wirtschaftlicher Hinsicht im Leben gleichwertig neben ihren sehenden Mitmenschen sich zu stellen vermögen“. „Das Los der Blindheit zu mildern, das Los der Lichtlosen zu bessern“ sei „die Aufgabe der Blindenfürsorge, insbesondere der Blindenanstalten“.
Die Nikolauspflege ist vor 150 Jahren zur Rettung armer und verwahrloster blinder Kinder gegründet worden, um ihnen durch Bildung die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Was mit einem Kind begann, ist zu einem Sozialunternehmen angewachsen mit einer breiten Palette an Angeboten für blinde, sehbehinderte und mehrfachbehinderte Sehgeschädigte.
Oliver Häuser
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